Pressemitteilung
C-58/13, C-59/13;
Verkündet am:
17.07.2014
EuGH Europäischer Gerichtshof
Rechtskräftig: unbekannt! In einen Mitgliedstaat zurückzukehren, um dort den Rechtsanwaltsberuf unter der in einem anderen Mitgliedstaat erworbenen Berufsbezeichnung auszuüben, stellt keine missbräuchliche Praktik dar Leitsatz des Gerichts: Die Möglichkeit der Angehörigen eines Mitgliedstaats der Union, den Mitgliedstaat, in dem sie ihre Berufsbezeichnung erwerben wollen, und den Mitgliedstaat, in dem sie ihren Beruf ausüben möchten, zu wählen, wohnt der Ausübung der von den Verträgen gewährleisteten Grundfreiheiten inne Zum Urteilstext (Englisch!) Zur englischen Version der Presserklärung Die Richtlinie über die Niederlassung von Rechtsanwälten1 soll die ständige Ausübung des Rechtsanwaltsberufs (als Selbständiger oder abhängig Beschäftigter) in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Berufsqualifikation erworben wurde, erleichtern, wobei der Beruf allerdings nur unter der ursprünglichen Berufsbezeichnung ausgeübt werden darf. Die Richtlinie sieht vor, dass die zuständige Stelle des Mitgliedstaats, in dem sich der Rechtsanwalt niederlässt, die Eintragung des Rechtsanwalts anhand einer Bescheinigung über dessen Eintragung bei der zuständigen Stelle des Mitgliedstaats vornimmt, in dem ihm die Berufsbezeichnung verliehen wurde2. Zwei italienische Staatsangehörige (Angelo Alberto Torresi und Pierfrancesco Torresi) erwarben, nachdem sie in Italien ihren Universitätsabschluss in Rechtswissenschaften erhalten hatten, einen Universitätsabschluss in Rechtswissenschaften in Spanien. Am 1. Dezember 2011 wurden sie als Rechtsanwälte in das Verzeichnis des Ilustre Colegio de Abogados de Santa Cruz de Tenerife (Rechtsanwaltskammer von Santa Cruz de Tenerife, Spanien) eingetragen. Am 17. März 2012 stellten sie beim Ausschuss der Rechtsanwaltskammer Macerata (Italien) einen Antrag auf Eintragung 3 in die „Sonderabteilung des Anwaltsverzeichnisses“. Diese Sonderabteilung umfasst die Rechtsanwälte, die eine in einem anderen Mitgliedstaat als Italien verliehene Berufsbezeichnung innehaben, aber in Italien niedergelassen sind. Da der Ausschuss der Rechtsanwaltskammer Macerata innerhalb der vorgesehenen Frist keine Entscheidung erließ, befassten die Herren Torresi den Consiglio Nazionale Forense (Ausschuss der gesamtstaatlichen Rechtsanwaltskammer Italiens, im Folgenden: CNF) und begehrten eine Entscheidung über ihre Eintragungsanträge. Sie machen geltend, dass die Eintragungen nach der geltenden Regelung nur von einer einzigen Voraussetzung abhingen, nämlich der Vorlage der „Bescheinigung über die Eintragung bei der zuständigen Stelle des Herkunftsmitgliedstaats“ (im vorliegenden Fall Spanien). Da diese Voraussetzung im vorliegenden Fall erfüllt war, hätten die Herren Torresi ihrer Ansicht nach in das Verzeichnis eingetragen werden müssen. Der CNF vertritt die Auffassung, die Herren Torresi könnten sich nicht auf die Richtlinie über die Niederlassung von Rechtsanwälten berufen, wenn der Erwerb der Berufsbezeichnung in Spanien lediglich dazu diene, das italienische Recht über den Zugang zum Rechtsanwaltsberuf zu umgehen, und damit eine missbräuchliche Ausnutzung der Niederlassungsfreiheit darstelle. Daher möchte der CNF vom Gerichtshof wissen, ob die zuständigen Stellen eines Mitgliedstaats dessen Angehörigen, die sich nach dem Erwerb eines Universitätsabschlusses im eigenen Land in einen anderen Mitgliedstaat begeben haben, um dort die Qualifikation für den Rechtsanwaltsberuf zu erwerben, und anschließend in den ersten Mitgliedstaat zurückgekehrt sind, um dort den Rechtsanwaltsberuf unter der im zweiten Staat erlangten Berufsbezeichnung auszuüben, die Eintragung in das Anwaltsverzeichnis wegen Rechtsmissbrauchs verweigern dürfen4. In seinem heutigen Urteil weist der Gerichtshof zunächst darauf hin, dass die Richtlinie über die Niederlassung von Rechtsanwälten zur Erleichterung der ständigen Ausübung des Rechtsanwaltsberufs in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Berufsqualifikation erworben wurde, einen Mechanismus der gegenseitigen Anerkennung der Berufsbezeichnungen der zuwandernden Rechtsanwälte schafft, die unter der ursprünglichen Berufsbezeichnung arbeiten wollen. Der Unionsgesetzgeber wollte so der Unterschiedlichkeit der nationalen Eintragungsvoraussetzungen ein Ende setzen, die den Ungleichheiten und Hindernissen für die Freizügigkeit zugrunde lagen. Die Richtlinie ist somit darauf gerichtet, die Voraussetzungen für die Ausübung des Niederlassungsrechts von Rechtsanwälten vollständig zu harmonisieren. Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass die Bescheinigung über die Eintragung im Herkunftsmitgliedstaat die einzige Voraussetzung ist, an die die Eintragung des Betreffenden im Aufnahmemitgliedstaat geknüpft ist, damit dieser dort unter seiner ursprünglichen Berufsbezeichnung tätig sein kann5. Der Gerichtshof betont, dass eine betrügerische oder missbräuchliche Berufung auf das Unionsrecht nicht erlaubt und ein Mitgliedstaat berechtigt ist, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um zu verhindern, dass sich seine Staatsangehörigen in missbräuchlicher Weise dem nationalen Recht entziehen. In diesem Zusammenhang weist der Gerichtshof darauf hin, dass die Feststellung einer missbräuchlichen Praxis das Vorliegen eines objektiven Elements (nämlich, dass das Ziel der Unionsregelung trotz deren formaler Einhaltung nicht erreicht wurde) und eines subjektiven Elements (nämlich, dass die Absicht, sich einen ungerechtfertigten Vorteil zu verschaffen, ersichtlich ist) verlangt. Dies vorausgeschickt, führt der Gerichtshof aus, dass die Möglichkeit der Angehörigen eines Mitgliedstaats der Union, den Mitgliedstaat, in dem sie ihre Berufsbezeichnung erwerben wollen, und den Mitgliedstaat, in dem sie ihren Beruf ausüben möchten, zu wählen, im Binnenmarkt der Ausübung der von den Verträgen gewährleisteten Grundfreiheiten innewohnt. Der Umstand, dass sich ein Angehöriger eines Mitgliedstaats, der im eigenen Land einen Universitätsabschluss erworben hat, in einen anderen Mitgliedstaat begibt, um die Berufsbezeichnung eines Rechtsanwalts zu erwerben, und danach ins eigene Land zurückkehrt, um dort den Rechtsanwaltsberuf unter der in dem anderen Mitgliedstaat erlangten Berufsbezeichnung auszuüben, ist die Konkretisierung eines der Ziele der Richtlinie und stellt keine missbräuchliche Ausnutzung des Niederlassungsrechts dar. Ebenso wenig stellt es einen Rechtsmissbrauch dar, dass die Eintragung in das Anwaltsverzeichnis kurze Zeit nach dem Erwerb der Berufsbezeichnung im Herkunftsmitgliedstaat beantragt wurde, da die Richtlinie nicht die Absolvierung einer praktischen Verwendung im Herkunftsmitgliedstaat vorschreibt. Der Gerichtshof gelangt zu dem Ergebnis, dass es keine missbräuchliche Praktik darstellt, wenn sich ein Angehöriger eines Mitgliedstaats, der einen Universitätsabschluss innehat, in einen anderen Mitgliedstaat begibt, um dort die Qualifikation für den Rechtsanwaltsberuf zu erwerben, und danach unter der in dem anderen Mitgliedstaat erworbenen Berufsbezeichnung in das eigene Land zurückkehrt. ------------------------ HINWEIS: Im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens können die Gerichte der Mitgliedstaaten in einem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit dem Gerichtshof Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts oder nach der Gültigkeit einer Handlung der Union vorlegen. Der Gerichtshof entscheidet nicht über den nationalen Rechtsstreit. Es ist Sache des nationalen Gerichts, über die Rechtssache im Einklang mit der Entscheidung des Gerichtshofs zu entscheiden. Diese Entscheidung des Gerichtshofs bindet in gleicher Weise andere nationale Gerichte, die mit einem ähnlichen Problem befasst werden. ------------------------------ 1 Richtlinie 98/5/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 1998 zur Erleichterung der ständigen Ausübung des Rechtsanwaltsberufs in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Qualifikation erworben wurde (ABl. L 77, S. 36). 2Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie. 3Nach Art. 3 der Richtlinie. 4In einem solchen Fall hat der Rechtsanwalt seine Tätigkeit im Aufnahmemitgliedstaat unter seiner ursprünglichen Berufsbezeichnung auszuüben. Diese Berufsbezeichnung ist in der Amtssprache des Herkunftsmitgliedstaats zu führen und muss verständlich und so formuliert sein, dass keine Verwechslung mit der Berufsbezeichnung des Aufnahmemitgliedstaats möglich ist (Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie). 5Vgl. Urteile des Gerichtshofs vom 19. September 2006, Kommission/Luxemburg (Rechtssache C-193/05) und Wilson (Rechtssache C-506/04). Vgl. auch Pressemitteilung Nr. 76/06. ----------------------------------------------------- Die von uns erfassten Urteile wurden oft anders formatiert als das Original. Dies bedeutet, daß Absätze eingefügt und Hervorhebungen durch fett-/kursiv-/&farbig-machen sowie Unterstreichungen vorgenommen wurden. Dies soll verdeutlichen, aber keinesfalls natürlich den Sinn verändern.Wenn Sie vorsichtshalber zusätzlich die Originalversion sehen möchten, hier ist der Link zur Quelle (kein Link? Dann ist dieser Link nicht in unserer DB gespeichert, z.B. weil das Urteil vor Frühjahr 2009 gespeichert worden ist). |