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Pressemitteilung
C-584/10 P, C-593/10 P et C-595/10 P;
Verkündet am: 
 18.07.2013
EuGH Europäischer Gerichtshof
 

Rechtskräftig: unbekannt!
Der Gerichtshof weist die Rechtsmittel gegen das Urteil "Kadi II" des Gerichts zurück
Leitsatz des Gerichts:
Die Europäische Union darf keine restriktiven Maßnahmen gegen Herrn Kadi erlassen, da keine Beweise für seine Verwicklung in terroristische Handlungen vorliegen
Zum Urteilstext (Englisch!)
Zur englischen Version der Presserklärung

Eine Reihe von Resolutionen des Sicherheitsrats verpflichtet alle Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen, Gelder und andere finanzielle Vermögenswerte einzufrieren, die unmittelbar oder mittelbar von Personen oder Organisationen kontrolliert warden, die mit Osama bin Laden, dem Al-Qaida-Netzwerk oder den Taliban in Verbindung stehen. Um diese Resolutionen in der Europäischen Union umzusetzen, hat der Rat eine Verordnung1 erlassen, mit der das Einfrieren der Gelder und anderen wirtschaftlichen Vermögenswerte von Personen und Organisationen angeordnet wurde, deren Namen in einer Liste im Anhang dieser Verordnung aufgeführt sind. Die Liste wird regelmäßig geändert, um den Änderungen der vom Sanktionsausschuss, einem Organ des Sicherheitsrats, aufgestellten konsolidierten Liste Rechnung zu tragen.

Yassin Abdullah Kadi, der seinen Wohnsitz in Saudi-Arabien hat, wurde vom Sanktionsausschuss des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen als mit Osama bin Laden und dem Al-Qaida-Netzwerk in Verbindung stehende Person benannt. Daher wurde sein Name am 17. Oktober 2001 der konsolidierten Liste hinzugefügt und anschließend in die in der Unionsverordnung enthaltene Liste aufgenommen.

Im Jahr 2005 ergingen die ersten Urteile des Gerichts2 zu Rechtsakten, die im Rahmen der Bekämpfung des Terrorismus erlassen worden waren. Darin entschied das Gericht, dass die europäischen Verordnungen zur Umsetzung der Maßnahmen des UNO-Sicherheitsrats im Wesentlichen nicht justiziabel seien.

Dagegen stellte der Gerichtshof3 im Jahr 2008 fest, dass die Unionsgerichte eine grundsätzlich umfassende Kontrolle der Rechtmäßigkeit von Handlungen der Union gewährleisten müssen, und zwar auch solcher Handlungen, mit denen Resolutionen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen umgesetzt werden. Daher entschied er, dass die Verpflichtungen aus einer internationalen Übereinkunft nicht den Grundsatz beeinträchtigen dürfen, dass bei den Handlungen der Union die Grundrechte beachtet werden müssen. Infolgedessen erklärte er die Verordnung, mit der der Name von Herrn Kadi in die Liste der mit Osama bin Laden in Verbindung stehenden Personen aufgenommen worden war, für nichtig, weil diese Verordnung mehrere Grundrechte verletzte, die Herrn Kadi nach dem Unionsrecht zustehen (Verteidigungsrechte, Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz). Herrn Kadi waren nämlich keine der ihm zur Last gelegten Umstände, nicht einmal die Gründe für seine Aufnahme in die Liste, mitgeteilt worden.

Auf dieses Urteil hin übersandte die Europäische Kommission Herrn Kadi die ihr vom Sanktionsausschuss übermittelte Begründung für seine Aufnahme in die Liste. Nachdem sie dazu eine Stellungnahme von Herrn Kadi erhalten hatte, beschloss sie, in einer neuen Verordnung4 seinen Namen auf der Liste der Union mit den Personen, gegenüber denen restriktive Maßnahmen Anwendung finden, zu belassen.

In Auslegung des Urteils Kadi des Gerichtshofs erklärte das Gericht die neue Verordnung der Kommission für nichtig5, da es eine umfassende und strenge gerichtliche Kontrolle der Rechtmäßigkeit dieses Rechtsakts zu gewährleisten habe, die sich auf die Informationen und Beweise erstrecke, auf denen die Begründung des Rechtsakts beruhe. Da diese Informationen und Beweise nicht übermittelt worden waren und die Angaben in der vom Sanktionsausschuss übermittelten Begründung dem Gericht insgesamt zu vage erschienen, kam es zu dem Ergebnis, dass die Verteidigungsrechte und das Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz von Herrn Kadi verletzt seien.

Die Kommission, der Rat und das Vereinigte Königreich haben dieses Urteil mit den vorliegenden Rechtsmitteln angefochten.

In seinem heutigen Urteil weist der Gerichtshof zunächst darauf hin, dass die zuständige Unionsbehörde im Rahmen eines Verfahrens, mit dem der Name einer Person in die Liste der Personen, die verdächtigt werden, mit dem Terrorismus in Verbindung zu stehen, aufgenommen oder auf ihr belassen werden soll, dem Betroffenen die Umstände mitteilen muss, die ihrer Entscheidung zugrunde liegen. So muss der Betroffene zumindest die vom Sanktionsausschuss übermittelte Begründung erhalten können, auf der dessen Entscheidung beruht, ihm gegenüber restriktive Maßnahmen anzuwenden. Zudem muss die zuständige Unionsbehörde es dem Betroffenen ermöglichen, seinen Standpunkt zu den gegen ihn herangezogenen Gründen in sachdienlicher Weise vorzutragen, und die Stichhaltigkeit dieser Gründe im Licht seiner Stellungnahme prüfen. In diesem Zusammenhang muss sie gegebenenfalls den Sanktionsausschuss und über ihn den UNO-Mitgliedstaat, der die Eintragung des Betroffenen in die konsolidierte Liste vorgeschlagen hat, um Zusammenarbeit bitten, damit ihr Informationen oder Beweise, seien sie vertraulich oder nicht, übermittelt werden, die es ihr ermöglichen, eine sorgfältige und unparteiische Prüfung der Stichhaltigkeit der fraglichen Gründe vorzunehmen.

Ebenso kann der Unionsrichter, der beurteilen muss, ob diese Gründe die Aufnahme des Betroffenen in die von der zuständigen Unionsbehörde aufgestellte Liste stützen können, im Rahmen seiner Kontrolle der Rechtmäßigkeit dieser Gründe von dieser Behörde die Vorlage der betreffenden Informationen oder Beweise verlangen. Im Streitfall ist es nämlich Sache dieser Behörde, die Stichhaltigkeit der gegen den Betroffenen vorliegenden Gründe nachzuweisen, und nicht Sache des Betroffenen, den negativen Nachweis zu erbringen, dass diese Gründe nicht stichhaltig sind. Ist es der zuständigen Unionsbehörde nicht möglich, dem Verlangen des Unionsrichters nachzukommen, hat sich dieser allein auf die Angaben zu stützen, die ihm übermittelt wurden, d. h. hier auf die Angaben in der vom Sanktionsausschuss übermittelten Begründung, auf die Stellungnahme des Betroffenen und die von ihm gegebenenfalls vorgelegten Entlastungsbeweise sowie auf die Antwort der Behörde auf diese Stellungnahme. Lässt sich die Stichhaltigkeit eines Grundes anhand dieser Angaben nicht feststellen, schließt der Unionsrichter ihn als Grundlage der fraglichen Entscheidung über die Aufnahme in die Liste oder die Belassung auf ihr aus.

Übermittelt die zuständige Unionsbehörde dagegen relevante Informationen oder Beweise, muss der Unionsrichter die Stichhaltigkeit der vorgetragenen Tatsachen anhand dieser Informationen oder Beweise prüfen und deren Beweiskraft anhand der Umstände und im Licht etwaiger dazu abgegebener Stellungnahmen, insbesondere des Betroffenen, würdigen.

In diesem Zusammenhang erkennt der Gerichtshof an, dass zwingende Gründe der Sicherheit oder der Gestaltung der internationalen Beziehungen der Union oder ihrer Mitgliedstaaten der Mitteilung bestimmter Informationen oder Beweise an den Betroffenen entgegenstehen können. In einem solchen Fall muss allerdings der Unionsrichter, dem die Geheimhaltungsbedürftigkeit oder Vertraulichkeit dieser Informationen oder Beweise nicht entgegengehalten werden kann, alle von der zuständigen Unionsbehörde beigebrachten rechtlichen und tatsächlichen Umstände sowie die Stichhaltigkeit der Gründe prüfen, die diese Behörde angeführt hat, um eine derartige Mitteilung abzulehnen.

Kommt der Unionsrichter zu dem Schluss, dass diese Gründe der zumindest teilweisen Mitteilung der betreffenden Informationen oder Beweise nicht entgegenstehen, gibt er der zuständigen Unionsbehörde die Möglichkeit, sie dem Betroffenen mitzuteilen. Lehnt die Behörde es ab, diese Informationen oder Beweise ganz oder teilweise zu übermitteln, prüft der Unionsrichter die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Rechtsakts allein anhand der Umstände, die dem Betroffenen mitgeteilt wurden.

Zeigt sich dagegen, dass die von der zuständigen Unionsbehörde angeführten Gründe der Mitteilung der dem Unionsrichter vorgelegten Informationen oder Beweise an den Betroffenen tatsächlich entgegenstehen, sind die Erfordernisse, die mit dem Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz verbunden sind und diejenigen, die sich aus der Sicherheit oder der Gestaltung der internationalen Beziehungen der Union oder ihrer Mitgliedstaaten ergeben, in angemessener Weise in Ausgleich zu bringen. Bei diesem Ausgleich kann auf Möglichkeiten wie die Übermittlung einer Zusammenfassung des Inhalts der fraglichen Informationen oder Beweise zurückgegriffen werden. Unabhängig davon hat der Unionsrichter jedoch zu beurteilen, ob und inwieweit die Tatsache, dass die vertraulichen Informationen oder Beweise dem Betroffenen gegenüber nicht offengelegt werden und es ihm damit unmöglich ist, zu ihnen Stellung zu nehmen, die Beweiskraft der vertraulichen Beweise beeinflussen kann.

Gelangt der Unionsrichter im Rahmen seiner Kontrolle der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung zu der Auffassung, dass zumindest einer der Gründe, die in der vom Sanktionsausschuss übermittelten Begründung angeführt sind, hinreichend präzise und konkret ist, dass er nachgewiesen ist und dass er für sich genommen eine hinreichende Grundlage für diese Entscheidung darstellt, kann der Umstand, dass dies auf andere Gründe nicht zutrifft, die Nichtigerklärung der fraglichen Entscheidung nicht rechtfertigen. Im umgekehrten Fall erklärt der Unionsrichter die angefochtene Entscheidung für nichtig.

Im vorliegenden Fall ist nach Ansicht des Gerichtshofs, entgegen der Beurteilung durch das Gericht, der überwiegende Teil der Gründe, die gegen Herrn Kadi vorliegen, hinreichend präzise und konkret, um eine sachdienliche Ausübung der Verteidigungsrechte und eine gerichtliche Kontrolle der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Rechtsakts zu ermöglichen. Da jedoch keine Informationen oder Beweise zur Untermauerung der von Herrn Kadi entschieden zurückgewiesenen Behauptungen, wonach er in Tätigkeiten verwickelt sei, die mit dem internationalen Terrorismus im Zusammenhang stünden, angeführt wurden, können diese Behauptungen den Erlass restriktiver Maßnahmen gegen ihn auf Unionsebene nicht rechtfertigen.

Infolgedessen ist nach Auffassung des Gerichtshofs die neue Verordnung der Kommission ungeachtet der Rechtsfehler, die das Gericht bei der Auslegung der Verteidigungsrechte und des Rechts auf gerichtlichen Rechtsschutz begangen hat, für nichtig zu erklären. Daher weist der Gerichtshof die von der Kommission, vom Rat und vom Vereinigten Königreich eingelegten Rechtsmittel zurück.

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HINWEIS: Beim Gerichtshof kann ein auf Rechtsfragen beschränktes Rechtsmittel gegen ein Urteil oder einen Beschluss des Gerichts eingelegt werden. Das Rechtsmittel hat grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung. Ist das Rechtsmittel zulässig und begründet, hebt der Gerichtshof die Entscheidung des Gerichts auf. Ist die Rechtssache zur Entscheidung reif, kann der Gerichtshof den Rechtsstreit selbst entscheiden. Andernfalls verweist er die Rechtssache an das Gericht zurück, das an die Rechtsmittelentscheidung des Gerichtshofs gebunden ist.
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1Verordnung (EG) Nr. 881/2002 des Rates über die Anwendung bestimmter spezifischer restriktiver Maßnahmen gegen bestimmte Personen und Organisationen, die mit Osama bin Laden, dem Al-Qaida-Netzwerk und den Taliban in Verbindung stehen (ABl. L 139, S. 9).
2Urteile des Gerichts vom 21. September 2005 (Yusuf und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission, Rechtssache T-306/01 u. a.), darunter auch das als „Kadi I“ bekannte Urteil (Kadi/Rat und Kommission, T-315/01); vgl. auch Pressemitteilung Nr. 79/05.
3Urteil des Gerichtshofs vom 3. September 2008, Kadi und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission,(C-402/05 P und C-415/05 P); vgl. auch Pressemitteilung Nr. 60/08.
4Verordnung (EG) Nr. 1190/2008 der Kommission vom 28. November 2008 zur 101. Änderung der Verordnung Nr. 881/2002 (ABl. L 322, S. 25).
5Urteil des Gerichts vom 30. September 2010, Yassin Abdullah Kadi/Europäische Kommission (T-85/09); vgl. auch Pressemitteilung Nr. 95/10.

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