Text des Beschlusses
1 Ws 413/11;
Verkündet am:
13.09.2011
OLG Oberlandesgericht Jena
Vorinstanzen: 130 Js 24444/06 6 KLs Jug Landgericht E; Rechtskräftig: unbekannt! Ausreichende Bestimmung des Verfahrensgegenstandes in einer Anklage wegen vielfachen sexuellen Missbrauchs desselben Opfers während eines längeren Zeitraums Leitsatz des Gerichts: StGB § 176; StPO §§ 200, 203, 204, 206a Abs. 1, 265 Ausreichende Bestimmung des Verfahrensgegenstandes in einer Anklage wegen vielfachen sexuellen Missbrauchs desselben Opfers während eines längeren Zeitraums. gegen M E, Verteidiger: Rechtsanwalt Dr. H Nebenklägerin: S E, E Nebenklägervertreterin: Rechtsanwältin B wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern nach § 176 StGB hat auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft E gegen den Beschluss des Landgerichts vom 20.7.2011 der des Thüringer Oberlandesgerichts durch , Richter am Oberlandesgericht Schulze und Richter am Landgericht Dr. Reichenbach am 13. September 2011 beschlossen: 1. Der Beschluss des Landgerichts E vom 20.7.2011 wird aufgehoben, soweit darin das Verfahren hinsichtlich der Fälle 1) bis 5) der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft E vom 4.6.2010 eingestellt wurde. 2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens werden dem Angeklagten auferlegt. „Der Angeschuldigte ist der leibliche Vater der Zeugin S E, geboren am 10.01.1982. In der Zeit vom 03.10.1990 bis 09.01.1996, als S E zwischen 8 und 13 Jahren alt war, lebte der Angeschuldigte mit S E und deren Mutter R Ein einer gemeinsamen Wohnung in E, M Straße 14. In diesem Zeitraum kam es an diesem Ort, jeweils Samstags zu folgenden Handlungen. 1. An einen exakt nicht festgestellten Tag begab sich der Angeschuldigte in das Zimmer der S E, zu dem dort im Bett liegenden Mädchen. Er zog die Hose des Kindes herunter und leckte am unbedeckten Geschlechtsteil des Mädchens. 2. Zu mindestens einer weiteren gleichartigen Handlung kam es, indem der Angeschuldigte sich in das Bett im Zimmer der S E begab, dem Kind die Hose herunter zog und am unbedeckten Geschlechtsteil des Kindes leckte. 3. An einem weiteren Tag begab sich der Angeschuldigte erneut ins Zimmer in das Bett der S E, zog ihr die Hose herunter und leckte am Geschlechtsteil des Kindes. Hierbei kam die Mutter des Kindes, die Zeugin R E hinzu, die jedoch von der Handlung des Angeschuldigten an dem Kind nichts bemerkte. 4. Zu mindest einer weiteren gleichartigen Handlung kam es, indem der Angeschuldigte erneut S E in ihrem Zimmer in ihrem Bett aufsuchte, dem Kind die Hose herunter zog und am unbedeckten Geschlechtsteil des Kindes leckte. Auch hier kam die Mutter des Kindes, die Zeugin R E dazu, ohne jedoch die Handlung des Angeschuldigten zu bemerken. 5. An einem weiteren exakt nicht festgestellten Tag, im Sommer des genannten Tatzeitraumes begab sich der Angeschuldigte erneut in das Bett in das Zimmer zu S E. Das Kind schlief ohne Schlafanzug. Der Angeschuldigte leckte am unbedeckten Geschlechtsteil des Kindes. 6. Zu mindestens einer weiteren gleichartigen Handlung kam es, im Tatzeitraum im Sommer, indem sich der Angeschuldigte erneut in das Zimmer des Kindes S E begab, dass ohne Schlafanzug im Bett lag. Der Angeschuldigte leckte am unbedeckten Geschlechtsteil des Kindes.“ Mit Verfügung ebenfalls vom 4.6.2010 stellte die Staatsanwaltschaft E das Ermittlungsverfahren gegen den Angeschuldigten unter anderem wegen weiterer ähnlicher sexueller Missbrauchshandlungen zum Nachteil der Zeugin S E gemäß § 170 Abs. 2 StPO wegen Verjährung ein, soweit diese Taten vor dem 4.10.1990 begangen worden sind. Mit Verfügung vom nämlichen Tage sah die Staatsanwaltschaft E gemäß § 154 Abs. 1 StPO von der Verfolgung weiterer, noch verfolgbarer Taten des sexuellen Missbrauchs zum Nachteil der Zeugin S E ab. Mit Beschluss vom 20.7.2011 lies das Landgericht E die Anklage der Staatsanwaltschaft E vom 4.6.2010 hinsichtlich des Anklagepunktes 6) zur Hauptverhandlung zu und eröffnete insoweit das Hauptverfahren vor dem Amtsgericht E – Jugendschöffengericht – als Jugendschutzgericht. Hinsichtlich der Tatvorwürfe zu Ziffern 1) bis 5) der genannten Anklageschrift stellte es das Verfahren gemäß § 206a Abs. 1 StPO ein. Zur Begründung führte das Landgericht aus, die Anklageschrift habe die dem Angeschuldigten zur Last gelegte Tat sowie Zeit und Ort ihrer Begehung so genau zu bezeichnen, dass die Identität des geschichtlichen Vorgangs klargestellt und erkennbar wird, welche bestimmte Tat gemeint ist. Sie müsse sich von anderen gleichartigen strafbaren Handlungen desselben Täters unterscheiden lassen. Diesen Anforderungen werde die Anklage nur im Fall der Ziffer 6) gerecht. Gegen den ihr am 21.7.2011 zugegangenen Beschluss legte die Staatsanwaltschaft E mit am Folgetage eingegangenem Schriftsatz vom 25.7.2010 sofortige Beschwerde ein, die sie mit Verfügung vom 4.8.2011 im Ergebnis damit begründete, die Anklageschrift werde den durch § 200 StPO gestellten Konkretisierungsanforderungen im Hinblick auf die angeklagten Taten gerecht. Die Thüringer Generalstaatsanwaltschaft tritt der sofortigen Beschwerde der Staatsanwaltschaft E in ihrer Stellungnahme vom 1.9.2011 bei und beantragt, den Beschluss des Landgerichts E vom 20.7.2011 aufzuheben, soweit das Verfahren hinsichtlich der Fälle 1) bis 5) der Anklageschrift gemäß § 206a Abs. 1 StPO eingestellt wurde, und das Hauptverfahren vor dem Landgericht – Jugendschutzkammer – E zu eröffnen. 1. Gegen die Entscheidung des Landgerichts, das Verfahren hinsichtlich der Anklagepunkte zu Ziffer 1) bis 5) der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft E vom 4.6.2010 gemäß § 206a Abs. 1 StPO einzustellen, ist gemäß § 206a Abs. 2 StPO die sofortige Beschwerde statthaft. 2. Sie ist auch im Übrigen zulässig. Sie wurde insbesondere innerhalb der Wochenrist des § 311 Abs. 2 StPO eingelegt. 3. Das Rechtsmittel ist begründet. Das Landgericht hat das Verfahren gemäß § 206a Abs. 1 StPO hinsichtlich der Anklagepunkte zu Ziffern 1) bis 5) der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft E vom 4.6.2010 wegen eines die Umgrenzungsfunktion der Anklageschrift beeinträchtigenden, sogenannten funktionellen Mangels des Anklagesatzes bezüglich der Bezeichnung der Tat im Sinne des § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO zu Unrecht eingestellt. a) Zunächst einmal berechtigt ein solcher Mangel im Zwischenverfahren nicht zur Einstellung des Verfahrens nach § 206a Abs. 1 StPO. Zwar begründet der vom Landgericht angenommene Mangel ein Verfahrenshindernis, weil es mangels wirksamer Anklageschrift an einer Voraussetzung für die Fortsetzung des Verfahrens fehlt (vgl. Schneider in KK–StPO, 6. Aufl., § 200 Rd.-Ziff. 31 i. V. m. Rd.-Ziff. 34). Stellt sich ein solcher Mangel indessen bereits im Zwischenverfahren heraus, wird das Verfahren nicht nach § 206a Abs. 1 StPO eingestellt, weil diese Norm ausweislich ihres Wortlautes erst nach Eröffnung des Hauptverfahrens (und nur außerhalb der Hauptverhandlung) greift (Paeffgen in SK–StPO, 4. Aufl., § 206a Rd.-Ziff. 4). Im Zwischenverfahren zwingt der vom Landgericht angenommene Mangel das angerufene Gericht vielmehr dazu, die Eröffnung des Hauptverfahrens gemäß § 204 Abs. 1 StPO abzulehnen (BGH, Urteil vom 17.8.2000, 4 StR 245/00 juris; OLG Frankfurt, Beschluss vom 20.12.2002, 3 Ws 1368/02, juris; Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 200 Rd.-Ziff. 26; Schneider in KK–StPO, a. a. O., § 200 Rd.-Ziff. 31). Zuvor ist freilich – wovon das Landgericht jedoch abgesehen hat – der Staatsanwaltschaft Gelegenheit zu geben, die Anklageschrift nachzubessern oder sie zurückzunehmen (vgl. BGH, Urteil vom 17.8.2000, 4 StR 245/00, juris; OLG Frankfurt, Beschluss vom 20.12.2002, 3 Ws 1368/02, juris; Meyer-Goßner, a. a. O, § 200 Rd.-Ziff. 26; Paeffgen in SK-StPO, a. a. O., § 206a Rd.-Ziff. 4; Schneider in KK-StPO, a. a. O., § 200 Rd.-Ziff. 31). Erst wenn die Staatsanwaltschaft eine Rücknahme der Anklageschrift oder deren Nachbesserung ablehnt oder die Nachbesserung aus Sicht des angerufenen Gerichts unzureichend ist, hat es die Eröffnung des Hauptverfahrens gemäß § 204 Abs. 1 StPO abzulehnen. b) Abgesehen davon liegt der vom Landgericht angenommene Mangel nicht vor. Die dem Angeklagten zur Last gelegte Tat im Sinne des § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO ist in der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft E vom 4.6.2010 noch hinreichend konkretisiert. Die Anklageschrift hat das dem Angeschuldigten zur Last gelegte Fehlverhalten sowie Zeit und Ort seiner Begehung so genau zu bezeichnen, dass die Identität des geschichtlichen Vorgangs klargestellt und erkennbar wird, welche bestimmte Tat gemeint ist; sie muss sich von möglichen anderen gleichartigen Handlungen desselben Täters unterscheiden lassen. Bleibt unklar, über welchen Sachverhalt das Gericht nach dem Willen der Staatsanwaltschaft zu urteilen hat, ist die Anklage unwirksam (vgl. BGH, Urteil vom 11.1.1994, 5 StR 682/93, juris; Meyer-Goßner, a. a. O., § 200 Rd.-Ziff. 26; Schneider in SK-StPO, a. a. O., § 200 Rd.-Ziff. 3, 30 f. m. w. N.). Über diese sogenannte Umgrenzungsfunktion hinaus kommt der Anklageschrift aber auch die Aufgabe zu, den Angeklagten und die übrigen Verfahrensbeteiligten über weitere Einzelheiten des Vorwurfs zu unterrichten, um ihnen Gelegenheit zu geben, ihr Prozessverhalten auf den mit der Anklage erhobenen Vorwurf einzustellen. Die diese Informationsfunktion der Anklageschrift beeinträchtigenden Mängel führen aber nicht zur Unwirksamkeit der Anklageschrift und damit nicht zu einem Verfahrenshindernis. Insoweit können etwaige Fehler der Anklageschrift auch noch in der Hauptverhandlung, namentlich durch Hinweise analog § 265 StPO, geheilt werden (BGH, Urteil vom 11.01.1994, 5 StR 682/93, juris; Meyer-Goßner, a. a. O., § 200 Rd.-Ziff. 27; Schneider in SK–StPO, a. a. O., § 200 Rd.-Ziff. 34). Welche Angaben zur ausreichenden Bestimmung des Verfahrensgegenstandes im Sinne der Umgrenzungsfunktion der Anklageschrift erforderlich sind, lässt sich nicht abstrakt-generell festlegen. Maßgeblich sind vielmehr die Umstände des Einzelfalls. Insofern können sich notwendige Differenzierungen unter anderem aus der Art des dem Angeschuldigten vorgeworfenen Delikts, dem Tatzeitpunkt sowie der Beweislage ergeben. Dabei können auch die Person des Geschädigten und die Einlassungen des Angeschuldigten von Bedeutung sein. Namentlich bei seriellen Sexualstraftaten zum Nachteil von Kindern wird die Individualisierung der einzelnen Tathandlungen nach Tatzeit und exaktem Geschehensablauf häufig nicht möglich sein, weil sie oft erst nach Jahren aufgedeckt werden und der Erinnerungsfähigkeit des regelmäßig einzigen Tatzeugen Grenzen gesetzt sind. Im Lichte des staatlichen Strafanspruchs darf die mangelnde Individualisierbarkeit in diesen Fällen einer Anklageerhebung nicht entgegenstehen, auch wenn dadurch dem Angeschuldigten die Verteidigung durch Alibibehauptungen weitgehend abgeschnitten wird. In diesen Fällen ist dementsprechend anerkannt, dass eine hinreichende Konkretisierung gegeben und damit die Umgrenzungsfunktion der Anklageschrift gewahrt ist, wenn in ihr das Tatopfer, die Art und Weise der Begehung in ihren Grundzügen, ein bestimmter Tatzeitraum sowie die exakte Zahl der den Gegenstand des Vorwurfs bildenden Straftaten mitgeteilt werden (BGH, Urteil vom 11.1.1994, 5 StR 682/93, juris; Beschluss vom 29.11.1994, 4 StR 648/94, juris; Schneider in KK–StPO, a. a. O., § 200 Rd.-Ziff. 5 ff.). Die Anzahl der dem Angeschuldigten vorgeworfenen Taten stellt sich dabei aus der Perspektive der Anklageschrift als eine Höchstzahl dar, weil es vor allem darum geht, den Gegenstand des Verfahrens nach oben hin abzugrenzen. Aus der Sicht des Urteils geht es dann darum, ob dem Angeklagten im Rahmen des so festgelegten Verfahrensgegenstandes eine bestimmte Anzahl von Taten mindestens nachgewiesen werden kann. Diese reduzierten Anforderungen gelten auch im vorliegenden Falle. Nach den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft soll der Angeschuldigte seine leibliche Tochter, die Zeugin S E, über Jahre hinweg bis zum Ende von deren Kindesalter regelmäßig am Samstag am immer gleichen Ort in der immer gleichen Weise sexuell missbraucht haben. Die letzte dieser Tathandlungen soll inzwischen ebenfalls über 15 Jahre zurückliegen. Den dargestellten reduzierten Anforderungen wird die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft E vom 4.6.2010 gerecht. Darin sind das Tatopfer, nämlich die Zeugin E, und der Tatzeitraum, nämlich vom 3.10.1990 bis zum 9.1.1996, konkret bezeichnet. Auch die Art und Weise der Tatbegehung wird konkret mitgeteilt. Der Angeklagte soll sich regelmäßig samstags morgens zu der in ihrem Bett liegenden Zeugin begeben und oral an deren unbedecktem Geschlechtsteil manipuliert haben. Auch die Höchstzahl der vorgeworfenen Taten ist angegeben. Neben der vom Landgericht nicht beanstandeten, weil letzten Tat zu Ziffer 6) der Anklageschrift sind weitere fünf Taten angeklagt. Darüber hinaus konkretisiert die Anklageschrift die angeklagten sechs Taten auch untereinander weiter. Namentlich habe der Angeklagte der Zeugin bei den Taten zu Ziffer 1) bis 4) der Anklageschrift die Hose heruntergezogen, während sie im Übrigen bereits nackt gewesen sei. In den Fällen der Ziffern 3) und 4) der Anklageschrift sei die Mutter der Zeugin und damalige Ehefrau des Angeklagten in das Zimmer gekommen, ohne allerdings die Übergriffshandlungen bemerkt zu haben. 4. Entgegen der Einschätzung der Thüringer Generalstaatsanwaltschaft hat nicht der Senat, sondern das Landgericht nun über die Frage zu befinden, ob ein hinreichender Tatverdacht auch für die Taten zu Ziffern 1) bis 5) der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft E vom 4.6.2010 gegeben ist. In diesem Falle hat es gemäß § 203 StPO die Eröffnung des Hauptverfahrens auch insoweit zu beschließen. Andernfalls hat es die Eröffnung des Hauptverfahrens gemäß § 204 Abs. 1 StPO abzulehnen. Eine Entscheidung des Senats über die Eröffnung verbietet sich, weil das Landgericht im Umfang der Einstellung bisher keine Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens getroffen hat und deshalb hier kein diesbezüglicher Beschwerdegegenstand anhängig geworden ist. 5. Die Kostenentscheidung beruht auf Grund des Erfolgs des zu Ungunsten des Angeklagten eingelegten Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft auf § 465 Abs. 1 StPO (Meyer-Goßner, a. a. O, § 473 Rd.-Ziff. 15). Schulze Dr. Reichenbach ----------------------------------------------------- Die von uns erfassten Urteile wurden oft anders formatiert als das Original. Dies bedeutet, daß Absätze eingefügt und Hervorhebungen durch fett-/kursiv-/&farbig-machen sowie Unterstreichungen vorgenommen wurden. 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