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Text des Urteils
1 Ss 40/11;
Verkündet am: 
 26.08.2011
OLG Oberlandesgericht
 

Jena
Vorinstanzen:
750 Js 19767/09 2 Cs
Amtsgericht
S;
Rechtskräftig: unbekannt!
In Fällen der Nichtzahlung ordnungsgemäß angemeldeter Sozialversicherungsbeiträge ist Tathandlung die schlichte Nichtzahlung der gemeldeten Beiträge
Leitsatz des Gerichts:
GG Art. 103 Abs. 3; StGB § 266a; StPO § 264

1. In Fällen der Nichtzahlung ordnungsgemäß angemeldeter Sozialversicherungsbeiträge ist Tathandlung – anders als in Fällen illegaler Beschäftigung, bei denen der Arbeitgeber die von ihm beschäftigten Arbeitnehmer nicht oder nicht im richtigen Umfang meldet – die schlichte Nichtzahlung der gemeldeten Beiträge; weitere Unrechtselemente enthält das Tat-bestandsmerkmal des Vorenthaltens in diesen Fällen nicht (Anschluss an BGH NStZ 2011, 161 f).

Die Umgrenzungsfunktion eines Strafbefehls ist gewahrt, wenn in diesem die Feststellung der Höhe der vorenthaltenen Gesamtsozialversicherungsbeiträge und der darin enthaltenen Arbeitnehmeranteile, die durch das Vorenthalten geschädigten Krankenkassen sowie die Beitragsmonate, in denen die Arbeitnehmeranteile vorenthalten wurden, enthalten sind.

2. Im Vorenthalten von Arbeitsentgelten für mehrere Arbeitnehmer gegenüber unterschiedli-chen Einzugsstellen sind regelmäßig verfahrensrechtlich selbständige Taten im Sinne des § 264 StPO zu sehen (Anschluss an OLG Frankfurt NStZ-RR 1999, 104, 105). Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass unter besonderen Umständen dennoch eine prozessuale Tat vorliegt.
Im zu entscheidenden Fall wird die Annahme von prozessualer Tatidentität weder von der Identität der Tatzeiträume, noch von der Identität des Unternehmens, noch von mangelnden Leistungsfähigkeit des Unternehmens als Ursache der generellen Nichtzahlung getragen.
In der Strafsache

gegen
S B,
geb. am in N,
: J, geschieden, deutsche Staatsangehörige

wegen
Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt

hat auf die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Amtsgerichts S vom 16.11.2010,

der 1. Strafsenat des Thüringer Oberlandesgerichts auf Grund der Hauptverhandlung vom 26. August 2011, an der teilgenommen haben: als Vorsitzender und als beisitzende Richter Oberstaatsanwalt Niedhammer als Vertreter der Thüringer Generalstaatsanwaltschaft, Rechtsanwalt B, als Verteidiger der Angeklagten Justizamtsinspektorin Scheel als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle für Recht erkannt:

Das Urteil des Amtsgerichts S vom 16.11.2010 wird mit den getroffenen Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Revision – an eine andere Abteilung des Amtsgerichts S zurückverwiesen.



Gründe:


I.

Der Angeklagten liegt zur Last, im Zeitraum Mai 2007 bis Februar 2008 durch 19 rechtlich selbständige Handlungen als Inhaberin des Unternehmens T mit Sitz in T, Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von insgesamt 17.834,04 € nicht an die AOK, die DAK und die IKK abgeführt zu haben.

Auf Antrag der Staatsanwaltschaft Gera ist gegen die Angeklagte am 03.09.2010 Strafbefehl (Az.: Cs 750 Js 19767/09) ergangen und eine Gesamtgeldstrafe in Höhe von 150 Tagessätzen zu je 25,00 € verhängt worden.

Auf den hiergegen von der Angeklagten form- und fristgerecht eingelegten Einspruch hat das Amtsgericht S aufgrund der Hauptverhandlung vom 16.11.2010 durch Urteil vom selben Tage das Verfahren wegen des Verfolgungshindernisses des Strafklageverbrauchs eingestellt.

Gegen dieses Urteil hat die Staatsanwaltschaft Gera am 22.11.2010 Rechtsmittel eingelegt, dieses innerhalb der Frist des § 345 Abs. 1 StPO als Revision bezeichnet und mit der Rüge der Verletzung materiellen Rechts begründet.


II.

Die zulässige Sprungrevision hat in der Sache Erfolg.

1. Es liegt kein Verfahrenshindernis vor.

a) Ein solches ist zunächst nicht darin zu sehen, dass die Umgrenzungsfunktion des Strafbefehls vom 03.09.2010, mit welchem das Strafverfahren eingeleitet worden ist, nicht gegeben wäre.

In Fällen der Nichtzahlung ordnungsgemäß angemeldeter Sozialversicherungsbeiträge – wovon hier nach dem im Strafbefehl dargestellten Sachverhalt auszugehen ist – ist die Tathandlung – anders als in Fällen illegaler Beschäftigung, bei denen der Arbeitgeber die von ihm beschäftigten Arbeitnehmer nicht oder nicht im richtigen Umfang meldet – die schlichte Nichtzahlung der gemeldeten Beiträge; weitere Unrechtselemente enthält das Tatbestandsmerkmal des Vorenthaltens in diesen Fällen nicht (vgl. BGH NStZ 2011, 161; Fischer, StGB, 58. Aufl., § 266a Rn. 10). Wenn in einem solchen Fall dem Urteil in der Regel lediglich die Feststellung der Höhe der vorenthaltenen Gesamtsozialversicherungsbeiträge und der darin enthaltenen Arbeitnehmeranteile, die durch das Vorenthalten geschädigten Krankenkassen sowie die Beitragsmonate, in denen die Arbeitnehmeranteile vorenthalten worden sind, festzustellen sind (vgl. BGH a.a.O.), so sind auch in einer Anklage bzw. einem Strafbefehlsantrag keine weitergehenden Angaben erforderlich. Die Umgrenzungsfunktion des Strafbefehls vom 03.09.2010 ist mithin gewahrt.

b) Es ist auch kein Strafklageverbrauch (Art. 103 Abs. 3 GG) eingetreten.

Das Amtsgerichts S verurteilte die Angeklagte am 28.04.2009 im Verfahren 704 Js 16839/08 wegen Vorenthaltens von Arbeitsentgelt in 10 Fällen. Dieser Verurteilung lag zu Grunde, dass sie als verantwortliche Inhaberin des Unternehmens T den Arbeitnehmeranteil zur Sozialversicherung für zwei Arbeitnehmer betreffend die Monate Mai 2007 bis März 2008 nicht an die zuständige Einzugsstelle Knappschaft Bahn-See abgeführt hatte.

Nach Auffassung des Amtsgerichts ist aufgrund dieser Verurteilung die Strafklage auch in Bezug auf die hier verfahrensgegenständlichen Taten verbraucht. Dem kann nicht gefolgt werden.

Im Vorenthalten von Arbeitsentgelten für mehrere Arbeitnehmer gegenüber unterschiedlichen Einzugsstellen sind regelmäßig rechtlich selbständige Unterlassungshandlungen zu sehen, die zueinander in Tatmehrheit stehen (siehe etwa OLG Frankfurt NStZ-RR 1999, 104, 105). Damit wird nicht ausgeschlossen, dass unter besonderen Umstände dennoch eine prozessuale Tat im Sinne des § 264 StPO vorliegt, so wie es das Oberlandesgericht Hamm in seiner Entscheidung vom 1.3.2001 (OLG Hamm wistra 2001, 238) angenommen hat. Dies wird aber die Ausnahme sein und kann stets nur anhand der Umstände des jeweiligen Einzelfalles beurteilt werden.

Zutreffend geht das Amtsgericht davon aus, dass mehrere sachlich-rechtlich selbständige Taten dann eine Tat im prozessualen Sinne bilden, wenn die einzelnen Handlungen nicht nur äußerlich ineinander übergehen, sondern nach den ihnen zu Grunde liegenden Ereignissen bei natürlicher Betrachtung unter Berücksichtigung ihrer strafrechtlichen Bedeutung auch innerhalb derart miteinander verknüpft sind, dass der Unrechts- und Schuldgehalt der einen Handlung nicht ohne die Umstände, die zu den anderen Handlungen geführt haben, richtig gewürdigt werden kann und ihre getrennte Würdigung als unnatürliche Aufspaltung eines einheitlichen Lebensvorganges empfunden würde (vgl. BGHSt 23, 141, 143; OLG Hamm wistra 2001, 238; KK-Engelhardt, StPO, 6. Aufl., Rn. 5 zu § 264 m.w.N.).

In dem angefochtenen Urteil hat das Amtsgericht die Annahme von prozessualer Tatidentität auf die Identität der Tatzeiträume, ferner auf den Umstand, dass es sich um ein und dasselbe Unternehmen handelte, und schließlich auf die generelle Nichtzahlung infolge fehlender liquider Mittel (mangelnde Leistungsfähigkeit der Angeklagten) gestützt. Nach Auffassung des Senats rechtfertigen diese Umstände hier die Annahme einer prozessualen Tat im Sinne der obigen Begriffsbestimmung nicht.

Das gilt zunächst für die Überlappung der Tatzeiträume. Die bloße Gleichzeitigkeit der Verwirklichung von Straftatbeständen reicht für eine Verknüpfung zu prozessualer Tateinheit nie aus, weder bei Begehungsdelikten, noch bei Unterlassungsdelikten. Daran ändert sich selbst dann nichts, wenn den Handlungen ein Gesamtplan zugrunde liegt (siehe etwa BGHSt 35, 14, 18; OLG Frankfurt NStZ-RR 1999, 104, 105; OLG Celle NStZ 1991, 554; OLG Oldenburg, Beschluss vom 22.06.2010, 2 Ss Bs 27/10, bei juris)

Die Identität des Unternehmens vermag hier ebenfalls keine prozessuale Tatidentität zu begründen (vgl. BGHSt 26, 284, 287 und 35, 14, 20; OLG Celle NStZ 1991, 554, 555). Ob ein Täter für sich selbst oder für ein Unternehmen handelt, kann insoweit grundsätzlich keine Rolle spielen. Zudem würden durch die Annahme einer Klammerwirkung des Handelns innerhalb eines Unternehmen Straftäter begünstigt, die durch Aufbau und Einsatz eines kriminellen Unternehmens bedeutende verbrecherische Energie entfalten (BGHSt 35, 14, 20). Selbst bei gewerbsmäßiger Begehungsweise, die zum Tatbestand gehört oder einen straferhöhenden Umstand bildet, liegen bei mehrfacher Tatbestandsverwirklichung sachlich-rechtlich und in der Regel auch prozessual selbständige Taten vor (vgl. BGHSt 35, 14, 19).

Schließlich eignet sich auch das Kriterium der mangelnden Leistungsfähigkeit hier nicht zur Begründung der Annahme einer prozessualen Tat. Mangelnde Leistungsfähigkeit während des gesamten Tatzeitraums beschreibt lediglich eine Grundsituation, die Ursprung einer andauernden Tatmotivation sein kann. Eine solche verknüpft materiell selbständige Handlungen aber noch weniger zu einer verfahrensrechtlichen Tat, als dies ein Gesamtplan vermag (vgl. OLG Frankfurt NStZ-RR 1999, 104, 105; OLG Celle NStZ 1991, 554). Anderenfalls müssten alle Straftaten eines Täters, die durch andauernden Geldmangel des Täters bzw. seines Unternehmens motiviert sind, zu einer Tat im prozessualen Sinne verklammert werden; das würde nicht nur den Tatbegriff sprengen, sondern auch zu völlig unsinnigen Ergebnissen führen.

Die Möglichkeit, dass in verschiedenen Strafverfahren in Bezug auf die Leistungsfähigkeit von einander abweichende Feststellungen getroffen werden, rechtfertigt die Annnahme einer prozessualen Tat ebenfalls nicht. Die Gefahr von Widersprüchen besteht vielmehr immer bei der Aburteilung von Taten, die untereinander Zusammenhänge erkennen lassen, ohne dass daraus die Notwendigkeit ihrer einheitlichen strafrechtlichen Beurteilung in ein und demselben Verfahren abgeleitet würde. (siehe näher Bittmann/Ganz wistra 2002, 130, 131).

Auch die Gesamtheit der vom Amtsgericht herangezogenen Umstände und deren Wechselwirkung unter Einbeziehung einer möglicherweise einheitlichen Motivationslage geben dem Fall nicht ein derart besonderes Gepräge, dass der Unrechts- und Schuldgehalt der hier verfahrensgegenständlichen Handlungen nicht ohne die Umstände, die zu den der Verurteilung vom 28.04.2009 zu Grunde liegenden Taten geführt haben, richtig gewürdigt werden kann und eine getrennte Würdigung als unnatürliche Aufspaltung eines einheitlichen Lebensvorganges empfunden würde.

2. Es besteht keine Veranlassung, die Sache gem. § 121 Abs. 2 GVG dem Bundesgerichtshof wegen Abweichung von der Entscheidung des Oberlandesgerichts Hamm vom 1.3.2001 (a.a.O.) vorzulegen.

Das Oberlandesgericht Hamm ist von den oben dargestellten Grundsätzen zur Bestimmung der Tat im prozessualen Sinne ausgegangen und ist in Anwendung dieser Grundsätze auf den konkreten, von ihm zu entscheidenden Fall zu dem Ergebnis gelangt, dass eine prozessuale Tat vorliegt. Es hat dies auf eine Würdigung „aller prägenden Gesichtspunkte“ gestützt und dabei „insbesondere“ die Leistungsfähigkeit genannt. Das Oberlandesgericht Hamm vertritt demnach nicht die Auffassung, dass fehlende wirtschaftliche Leistungsfähigkeit schon für sich stets prozessuale Identität von Taten nach § 266a StGB hinsichtlich identischer Zeiträume gegenüber verschiedenen Einzugsstellen begründet. Es hat diesem Gesichtspunkt lediglich in dem von ihm entschiedenen Einzelfall besonderes Gewicht beigemessen. Da der Senat bei der Beurteilung prozessualer Tatidentität der mangelnder Leistungsfähigkeit nicht generell jede Bedeutung abspricht, weicht er von der Entscheidung des Oberlandesgerichts Hamm nicht ab.

3. Das Einstellungsurteil des Amtsgerichts S vom 16.11.2010 war deshalb aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts S zurückzuverweisen.

Richter am Oberlandesgericht Blaszczak hat Urlaub und kann deshalb nicht unterschreiben Dr. Schwerdtfeger
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